Ehrenfried Walther von Tschirnhaus - der Weg zum Porzellan
(von Dieter Bauke, Gera)

Einleitung
 
Eklektik
 
Gegenstand und Methode
 
Mathematik
 
1. "geometrische Mathematik"
 
2. "historische Mathematik"
 
3. "algebraische Mathematik"
 
Erkenntnislehre
 
Schlußbemerkung
 
Anmerkungen
 

Tschirnhaus' Kubik



Einleitung
zum Anfang

"Seitdem die antike Mathematik die Aufmerksamkeit der Philosophen auf sich gezogen hat, konnte sich kein klassisches System der Philosophie als vollständig betrachten, solange es keine Rechenschaft seiner Beziehung zu diesem Zweig der Tätigkeit des menschlichen Geistes geleistet hatte." (1)
Dieses Interesse der Philosophie an der Mathematik bestand und besteht fort. Wir finden gerade im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts (zum zweiten mal nach der Antike) wieder namhafte Forscherpersönlichkeiten, die zugleich Mathematiker und Philosophen waren. Es seien nur J. Jungius (1587-1657), R. Descartes (1596-1650) und G.W. Leibniz (1646-1716) erwähnt. Diese Gelehrten waren zusammen mit B.Spinoza (1632-1677) und C.Wolff(1679-1754) die bedeutendsten Vertreter des Rationalismus. Es ist charakteristisch für den Rationalismus, daß er dem mathematisch-logischen Denken hohe Wertschätzung zollte, den propädeutischen Nutzen der Mathematik für die Philosophie erkannte und schließlich die Forderung erhob, daß die Verbesserung der Philosophie von der Mathematik auszugehen habe. (2)
In diesem Kontext ist auch Tschirnhaus zu nennen, dessen Hauptwerk "Medicina mentis ..." (3) kartesisches und spinozistisches Denken vereinigt und weiterentwickelt. Keine Darstellung der "Wechselbeziehungen von Philosophie und Mathematik im geschichtlichen Entwicklungsprozess" (4) kommt umhin, in diesem Zeitraum einen Aufschwung der Wechselwirkung festzustellen, deren mathematische wie philosophische, ja gesamtgesellschaftliche Relevanz unbestritten ist. (5)
Die Darlegungen Kedrowskis (6) könnten Tschirnhaus "auf den Leib" geschrieben sein.
Aber nicht mehr nur die Fragen nach den "Grundströmungen" (Empirismus, Rationalismus, ...) werden diskutiert, sondern immer mehr auch die nach den Quellen und Positionen des Rationalismus. Diese findet man im Zusammenfließen verschiedenster bisher meist getrennter bzw. getrennt betrachteter philosophischer Positionen.
 


Elektrik
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In der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bildet sich (nach der Antike zum zweiten mal) der Typus des eklektischen Philosophierens heraus, die Ausprägung eines Programms, das nacheinander als Eklektik, als Selbstdenken und als Mündigkeit begrifflichen Ausdruck findet (und hier mit der Aufklärung verbunden ist): Das Gemeinsame ist die Idee eines freien und eigenständigen Denkens, das sich aus der Bindung an eine bestimmte Schule oder Autorität gelöst hat und die Erkenntnis der Wahrheit dem eigenen Verstand überantwortet. Diese Idee formiert sich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts zur Bewegung der Eklektik: vom eigenen Urteil Gebrauch machen, die wahren Gedanken aus den verschiedensten Autoren oder Parteien auszuwählen und so der Wahrheit Schritt für Schritt näher zu kommen. (7)
Ehrenfried Walther von Tschirnhaus wird von Albrecht mehrfach als Eklektiker erwähnt (8), wobei er sich besonders auf Tschirnhausens "Gründliche Anleitung..." (9) bezieht. Schauen wir in der "Medicina mentis ...", Tschirnhausens früher erschienenem Hauptwerk, auf dem auch die "Gründliche Anleitung ..." fußt, nach:
"Denn alle Güter (Wissenselemente-D.B.), die wir nunmehr besitzen, waren uns einmal unbekannt; und daher gebührt denen allein der Dank, die diese Güter zu unserem Nutzen als erste entdeckt haben." (10)
"Und so ist es sehr heilsam, die Irrtümer scharfsinniger und geistvoller Männer und die Wahrscheinlichkeit zu wissen, die sie täuschte und zum Irrtum verleitete. ... Daß übrigens unter den Gelehrten auch hinsichtlich der Prinzipien der Philosophen nicht eine so große Meinungsverschiedenheit herrscht, haben sehr berühmte Männer zu beweisen versucht ..." (11)
"Deshalb habe ich ... gezeigt, daß es ... ein sehr wertvoller Rat ist, wenn man die Schriften solcher Autoren, die alle ihre Thesen richtig begriffen haben, eifrig und aufmerksam studiert ..." (12)
"Ich meine nämlich, daß es keinen vortrefflicheren Weg gibt, die Wahrheit im Anfang aufzuspüren, als den durch die Erfahrungen." (13)
Im Vorwort zur 2. Auflage macht Tschirnhaus seine Position noch einmal deutlich:
"Was ich ... bemerkt wissen will, nämlich daß uns auf diese Weise m.E. zur Aufspürung der Wahrheit ein ebener oder leichter und zwischen den Wegen aller bisherigen Philosophen gleichsam die Mitte haltender Weg gebahnt worden ist." (Nämlich, welches die echten Meinungen verschiedener Schulen der Alten wie der Neueren betrifft.) (14)

Damit benennt Tschirnhaus verschiedene eklektische Ansätze:
1. Er nennt einige seiner Vorläufer, die verschiedenen Schulen der Alten wie der Neueren.(15)
2. Tschirnhaus bezieht sich auf die griechische Eklektik (und Erkenntnislehren) mit dem Hinweis, dem Weisheitsstreben auch in seinem Werk zu folgen. (16)
3. Tschirnhaus betont, nicht bestimmten Autoritäten zu folgen und einen eigenen Weg beim Erkennen der Wahrheit zu beschreiten. (17)
 


Gegenstand und Methode
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Tschirnhaus ist, wie wir sahen, nach seinen eigenen Aussagen Eklektiker. Dies spiegelt sich auch in seiner Erkenntnismethode (deren Darlegung den Hauptinhalt seiner "Medicina mentis ..." bildet) wider. Für Tschirnhaus gibt es drei Stufen des Philosophierens (der Erkenntnistätigkeit und damit der Erforschung der Wahrheit, dann auch der Darstellung und Lehre etc.), diesen drei Stufen mißt er eine so hohe Bedeutung bei, daß er drei Arten von Philosophen benennt:
"Diejenigen, die das Wesen der Mathematik aufmerksamer betrachtet haben, haben ohne Zweifel beobachtet, daß es bei ihrer Erwerbung besonders drei Stufen der Erkenntnis gibt. Die erste von diesen ist die, wenn man erfahren hat, in wie viele Disziplinen die Wissenschaft geteilt wird und wovon eine jede handelt, und wenn man die Kenntnis aller ebenda vorkommenden Fachausdrücke und dergleichen sich verschafft. Die zweite Stufe ist die, wenn man sich die Erkenntnis von dem erworben hat, was ... die ... Alten in eben dieser Wissenschaft gefunden und was die Neueren auf diesen Grundlagen errichtet haben. Wenn diese Stufe aber auch viel vortrefflicher als die erste ist, so scheint mir doch ein solcher Kenner der Mathematik ... noch kein vollkommener Mathematiker genannt werden zu dürfen, sondern erst jener, der von diesen früheren auch zur dritten Stufe der Erkenntnis emporgestiegen ist, deren Erfordernis es ist, daß man imstande ist, ..., alles, was in der Mathematik verborgen ist, ... durch die eigenen Kräfte seines Geistes zu ermitteln.
Was aber hier bei der Mathematik genialen Männern wohlbekannt ist, wie ich weiß, das scheint nach meiner Ansicht auf die gesamte menschliche Erkenntnis, die unter den Namen der Philosophie begriffen wird, ausgedehnt werden zu müssen." (18)

Anschließend benennt und charakterisiert Tschirnhaus diese drei Ebenen des Erkenntnisstrebens:
1. Stufe: Wortphilosoph: Er kennt die Bedeutung der vorkommenden Fachausdrücke und deren Unterscheidungen, die Einteilung der Philosophie in Disziplinen, die Begriffe der Schulen der Alten und bis auf unsere Zeit.
2. Stufe: Historiophilosoph: Er kennt die Meinungen der Alten wie der Neueren, und, welche den Vorzug verdienen, sowie das stufenweise Wachstum des Wissens.
3. Stufe: Sachphilosoph: Dieser hat einen hohen Grad der Erkenntnis (ist im Besitz der Erkenntnis-Methode) und damit in der Lage, Neues zu entdecken, so daß der Philosoph "durch die Sache selbst merkt, es steht in seiner Macht, alles, was unbekannt ist, aber dennoch dem menschlichen Intellekt zugänglich ist, durch die eigenen Kräfte seines Geistes ans Licht zu ziehen."
Tschirnhaus nachvollzieht damit in Aufbau und Inhalt seiner Lehre eine Strömung seiner Zeit, gemäß seinem Vorbild Descartes: Etwa bei Descartes bahnte sich ein Wandel im Verhältnis der Mathematiker zur Geschichte ihres Faches an. Man spricht manchmal von der geistigen Bewegung der "Gegenrenaissance", wo nicht mehr das Lernen von der Antike, sondern das Fortschreiten über deren Erkenntnisstand im Vordergrund stand. Descartes betonte ja ausdrücklich in seinem Discours de la methode, über die Analysis der Alten und die Algebra der Modernen mit seiner Methode hinauszugehen. (19)

Nun bleibt Tschirnhaus nur noch, die Methode zu charakterisieren, die den Sachphilosophen auszeichnet (Kapitel 2 der "Medicina mentis ...", Hauptinhalt des Werkes). Ihre Herleitung benennt er sofort:
"Wie es nun aber in der Mathematik ein bestimmtes Wissensgebiet gibt, um zu dieser dritten und höchsten Stufe der Erkenntnis zu gelangen, nämlich die Analysis speciosa, allgemein Algebra genannt, die wegen ihrer einzigartigen Bedeutung von den Neueren überaus vervollkommnet wurde und die mir die echte Philosophie der Mathematik zu sein scheint, so gibt es in gleicher Weise eine allgemeine Wissenschaft, mit deren Hilfe jeder beliebige, der mit ihr gehörig ausgerüstet ist, nicht allein alles Verborgene, soweit es unter den Intellekt fällt, durch eine sichere und feststehende Methode mit Gewißheit ans Licht bringen kann. Und diese Wissenschaft oder, wenn man lieber will, diese Kunst des Entdeckens ist selbst die echte Philosophie." (20)

Diese "Kunst des Entdeckens" (Weiterentwicklung der cartesischen Methode (21)) besteht aus drei Teilen:
1. Die vollständige Erfassung aller Untersuchungsobjekte und deren Klassifizierung (Dekomposition, analytische Position)
2. Ordnung der letzten Gattungen und vollständige Komposition aller Begriffe (synthetische Position)
3. Ordnung der Begriffe so, daß sie einander in logischer Weise folgen (Deduktivität) vom Einfachen zum Zusammengesetzten / Komplizierten (Homogenität). Dieser Progreß erfolgt bis ins Unendliche und es wird bewiesen, daß so alle Begriffe gebildet werden können. (Vollständigkeit)
Damit ist das begriffliche Feld aller Erfahrung mittels vollständiger Definitionen bereitgestellt. Tschirnhaus verweist auf methodologische Erfordernisse (Klarheit, Evidenz, Stringenz, Vollständigkeit der Prinzipien u.a.), und aus den Definitionen und daraus gebildeten Axiomen sind dann Theoreme und Korollarien ableitbar. Tschirnhaus erbrachte mit diesem Methodenkonzept eine originäre Leistung, welche die auf ihn folgende Philosophengeneration in die deutsche Aufklärung einbrachte. (22)

( In der "Medicina mentis ... " spiegeln sich Tschirnhausens eklektische Positionen des Philosophierens wider und finden ihren Niederschlag; so sind Begriffe für ihn charakterisiert sowohl durch ihren Umfang (Gesamtheit der Fälle, die unter ihn gehören; oft Position des Mathematikers) als auch durch ihren Inhalt (Gesamtheit der Merkmale, die den Begriff bestimmen; oft Position des Philosophen). Wissenschaft ist für ihn sowohl mathematisch (wenige Grundwahrheiten und lange Schlußketten erschließen Wissen wegen der Gültigkeit der Schlußweisen) als auch historisch (beurkundete Wahrheiten und Kombinationen erschließen Wissen wegen der Gültigkeit der Ausgangspunkte); experimentelle Wissenschaft verknüpft beide Ausgangspunkte.)

Die Mathematik ist Tschirnhausens Vorbild für seine Philosophie (Erkenntnislehre), bei der Erschließung des Gegenstandes, aber insbesondere methodisch: "Denn aus ihnen (den mathematischen Studien-D.B.) leuchtet die Idee der vollkommensten Methode vollständig hervor, so daß sie uns schon deswegen gleichsam als Norm dienen kann, ..." (23) Dem dient auch die ausführliche Bereitstellung der Logik, eines Äquivalenzschließens höchster Sicherheit (im bewußten Gegensatz zur Syllogistik). (24)
 


Mathematik
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So, wie die Mathematik Tschirnhausens Vorbild für Inhalt und auch die Darstellung seiner Philosophie ist, will er am Beispiel der Mathematik auch das Arbeiten mit und so die Leistungsfähigkeit seiner philosophischen Methode demonstrieren. (25) Gemäß dem Eingangszitat soll dieses Wissens- und Wirkensfeld Bestandteil der Philosophie sein, gemäß Tschirnhausens Positionen eklektisch und dreifach gestuft .
Da die Methode der Mathematiker auch seine philosophische Methode ist, bedarf es nur noch der Gegenstandsbestimmung der Mathematik. Dieser dreifachen Aufgabe stellt sich Tschirnhaus ebenfalls:

 


1."geometrische" Mathematik (26)
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Eingangs stellt Tschirnhaus fest, daß Mathematik sich mit rationalen Wesenheiten beschäftigt, deren Gegenstände gleich oder ungleich (und dann größer oder kleiner zueinander) sind (Dichotomie/Trichotomie). Vorgegeben ist die gerade Linie, da sie sehr leicht vorstellbar (Tschirnhausens Wahrheitskriterium) und auf sie alles zurückführbar ist. "Denn die geraden Linien stellen die gesamten Proportionen oder Beziehungen aufs Bequemste dar, denn jede mögliche Progression ist als [Abhängigkeit von der Geraden - D.B.) ] darstellbar." (Darstellung der Abhängigkeit als Endpunkte von Strecken, die von der geraden Linie parallel wegführen, eine Form cartesischer Koordinaten.) Die Endpunkte der Strecken bilden dann eine Kurve. Entdecken in der Mathematik heißt, alle möglichen Kurven zu betrachten. Wenn mögliche Beziehungen aller Gegenstände so darstellbar sind, heißt Problem-Feststellen: die entsprechende Kurve aufzeigen. Diese Mathematik ist folgendermaßen gegliedert:
1. einfachste Kurven: gerade Linien
2. Kurven, bei deren Bildung gerade Linien angewendet werden: Kegelschnitte, Kissoiden, Konchoiden, ...
3. Kurven, bei deren Bereitstellung Kurven der 2. Art verwendet werden: Spiralen, Quadratrix, Zykloiden ...
4. usw.
Tschirnhaus zeigt dann, daß so alle Kurven erhalten werden. "Bei rationalen Wesenheiten sind die Elemente Punkte, Geraden und Kurven. Etwas anderes kann man sich darunter nicht vorstellen." Mit einem ausführlichen Beispiel (Fadenkonstruktion der Tschirnhaus-Ellipsen (27) ) schließt er den Nachweis der Vollständigkeit dieser Mathematik ab.
 


2. "historische" Mathematik
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Andeutungen dieser Vorgehensweise finden wir in der "Medicina mentis ..." (28), umfassend ausgebaut hat Tschirnhaus diese Variante (wegen ihrer pädagogischen Ausrichtung ) in der "Gründlichen Anleitung ..."(29): Er erläutert ausführlich und mittels umfangreicher Literaturangaben (von denen ich hier nur Autoren-Beispiele bringe) den Weg vom Laien zum Algebraiker und beschreibt damit Mathematik:
Erster Schritt: den Lernenden die Praxis in allen Disziplinen beibringen: Arithmetik (Pescheck), Geometrie (Schwenter) und Astronomie (Sturm), aber auch Optik, Mechanik, Perspektive, Architektur uvam. (Schott, Alberti, Perrault, Vitruv,...)
Zweiter Schritt: den Lernenden in die (geometrische und arithmetische) Theorie einführen (Euklid, Archimedes, Apollonius, Deschales, De la Hire, Ozanam. Taquet, Lamy)
Dritter Schritt: den Lernenden die Methode verraten; in der Arithmetik die 4 Spezies in ganzen Zahlen und Brüchen, Algebra bis zu den Quadratischen Gleichungen und dann die Methoden der Neueren (Schoten, Descartes, Graaf, Kinckhuysen, Barrow, Neuventijt, Sturm)
Vierter Schritt: den Lernenden die verschiedensten Spezialdisziplinen (Trigonometrie, Optik, Mechanik, Geometrie, Astronomie etc.) durch das Studium der aktuellen Literatur (Taquet, Graaf, Kepler, etc.) beibringen.
- "... und hieraus lernet ein begieriger Liebhaber der Wahrheit, von was für Wichtigkeit die Methode zu demonstrieren der Mathematicorum sey, ..." (30) (So stellt er diese Methode, historisch erarbeitet, allen Wissenschaften, einschließlich der Philosophie, bereit, wie vorn ausgeführt.)
 


3. "algebraische" Mathematik (31)
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Hier knüpft Tschirnhaus an die Überlegungen der "geometrischen Mathematik" an: geometrisches Bestimmtsein und geometrische Grundoperationen ermöglichen die Bildung aller Kurven (Beschreibung aller mathematischen Probleme). Ein Punkt ist durch das Ende einer Strecke bestimmt (und damit eine Zahl festgelegt: Länge der Strecke). Die drei Grundoperationen Addition, Subtraktion und Proportionalität ermöglichen in mehreren Schritten, von Konstanten, Potenzen der Variablen und deren beliebiger Verknüpfung zu Termen f(x) (in heutiger Schreibweise) überzugehen; die Gleichsetzung mit Potenzen von y beschreibt dann das Problem. Tschirnhaus glaubt, so alle mathematischen Probleme beschreiben zu können. Diese sind dann mittels seiner Methode (Analysis speciosa = Algebra) lösbar.
( In verschiedenen Entwürfen zu einem Algebra-Lehrbuch (32) notiert Tschirnhaus: Algebra ist die Universalmathematik, sie besteht aus den Elementen (der Künste), den Anwendungen der Elemente, den Anwendungen der Anwendungen etc. Elemente (der Künste) sind die Logistik der ganzen Zahlen, der Brüche aus diesen usw. mittels der Operationen (+,-,*,:,Quadratwurzel), unter Logistik versteht Tschirnhaus hier Termumformung und die Anwendungen der Elemente erfolgen zum Lösen von Problemen. Auch hier stellt Tschirnhaus die Algebra als universelle Methode der Mathematik heraus.)
 


Erkenntnislehre
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Diese drei Mathematiken sind (formal gesehen) ineinander überführbar, aber darum geht es Tschirnhaus nicht. Die logische Struktur des Wissens entspricht seinem historischen Werden, die Aneignung des vorhandenen Wissens "der Alten wie der Neueren" ist, nachdem begriffliche Klarheit geschaffen wurde, notwendige Voraussetzung, Neues zu entdecken. Nicht nur, daß man so an die offenen Fragen und aktuellen Diskussionen herangeführt wird, nur so auch lernt man die "vollkommene Methode" in ihren vielen Dimensionen (historisch, logisch, analytisch, synthetisch, methodologisch, ...) kennen und nutzen ! Mit der Anwendung der philosophischen Methode (wovon ich hier nur einen kleinen Eindruck geben konnte) schließt sich Tschirnhausens Kreis des Fortschreitens "von Wahrheit zu Wahrheit". Seine Philosophie (Eklektik auf rationalistischer Grundlage, verbunden mit universeller Methode) ist konsistent, begründet auf mathematischer Exaktheit; seine Mathematik erfaßt die Erforschung aller rationaler Wesenheiten. Dies wird von den Zeitgenossen anerkannt und gewürdigt. (33)
 


Schlußbemerkung:
zum Anfang

Diese enge Verbindung von Philosophie und Mathematik insbesondere unter Einbeziehung ihrer Geschichte ist freilich nicht von langer Dauer. (34) Ontologisch orientierte Philosophie ist "systemschaffend", nicht (wie gnoseologisch orientierte Philosophie, wie bei Tschirnhaus) systemintegrierend. Auch Eklektik ist so nicht möglich, die Differenzierung der Wissenschaften schreitet also fort. Aus der Sicht von "Systemen" ist dann eine Begründung der Mathematik bzw. die Lösung von "philosophischen Problemen der Mathematik" nötig. Heutige "Begründungen der Mathematik" sind Herleitungen aus jeweils einer Philosophie ("System"), wobei diese jeweilige Philosophie zumeist ohne Nutzung der Mathematik entwickelt wird. Damit sind eklektische Begründungen nicht möglich/nötig. Die "wahre Philosophie" scheint mir aber eine "offene" Philosophie sein zu müssen, lernend aus allen Wissenschaften und diese befruchtend - wie bei Tschirnhaus.
 


Anmerkungen
zum Anfang

(1) Beth, E.W. "Mathematisches Denken" Dordrecht 1965, S. 1, zit. Nach Heitsch (2)
(2) Heitsch, W. "Mathematik und Weltanschauung" Berlin 1976, 1978(2), S. 7f
(3) Ich stütze mich auf die deutsche Ausgabe "Ehrenfried Walther von Tschirnhaus Medicina mentis sive artis inveniendi praecepta generalia ... " hrsg. von Rudolph Zaunick, Leipzig 1963 (=Acta historica Leopoldina 1, 1963)
(4) Kedrowski, O.J. "Wechselbeziehungen von Philosophie und Mathematik im geschichtlichen Entwicklungsprozess" Leipzig 1984
Insbesondere S. 108-118 wird dieser Zeitraum ausführlicher als bei Heitsch (Anm. 2) besprochen. Tschirnhaus wird dort zwar nicht genannt, jedoch treffen alle Feststellungen und Erwägungen auch auf ihn zu.
(5) Siegfried Wollgast "Ehrenfried Walther von Tschirnhaus und die deutsche Frühaufklärung" Berlin 1988 (=Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Band 128, Heft 1)
(6) vgl. Anm. 4, auch die antischolastische Stoßrichtung wird betont, wie sie auch bei Tschirnhaus anzutreffen ist.
(7) Albrecht, M. "Eklektik" Stuttgart 1994, S. 23f
(8) wie Anm. 7, S. 406, 461, 479, 538
(9) Tschirnhaus, E.W.v. "Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschaften, ..." 4. Auflage Leipzig 1729, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstadt 1967 (Erstaufl. 1700)
Es bedarf noch einer Untersuchung, wie weit Ergänzungen von anderer Hand nach Tschirnhausens Tode erfolgten.
(10) wie Anm. 3, S. 52
(11) wie Anm. 3, S. 89 Hier wie anderenorts wird u.a. der bei Albrecht als hervorragender Eklektiker vorgestellte Sturm herangezogen.
(12) wie Anm. 3, S. 92
(13) wie Anm. 3, S. 282 Über den Erfahrungsbegriff in diesem Zusammenhang vgl. Wollgast, Siegfried "Zum Methoden- und Erfahrungsproblem bei Ehrenfried Walther von Tschirnhaus" in: Hecht, Hartmut (Hrsg.) "Gottfried Wilhelm Leibniz im philosophischen Diskurs über Geometrie und Erfahrung" Berlin 1991, S. 105-129
(14) wie Anm. 3, S. 40, 45
(15) wie Anm. 3, S. 41, 89, 92f, 199 und öfter (Vorläufer in Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften und Technik, so Descartes, Arnauld, Malebranche, Mariotte), ausführlicher dann in der "Gründlichen Anleitung ..." ( Anm. 9)
(16) wie Anm. 3, S. 41, 58-63
(17) wie Anm. 3, S. 67-74, 146 , gegen den Autoritätsglauben: S. 50; auch: Bauke, Dieter "Tschirnhausens Logik - Wegbereiter der Mathematischen Logik" in: Deutsche Mathematiker-Vereinigung, Vortragsauszüge Jahrestagung Bielefeld 1991, S. 30
(18) wie Anm. 3, S. 39
(19) wie Anm. 3, S. 39f
Siegmund-Schulze, Reinhard " Über das Interesse von Mathematikern an der Geschichte ihrer Wissenschaft" in: Amphora, Festschrift für Hans Wußing zu seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Sergei S. Demidov et al., Basel Boston Berlin 1992, S. 705 - 737, hier S. 711f
(20) wie Anm. 3, S. 40
(21) wie Anm. 3, S. 177-180
(22) Kapitel 2 der "Medicina mentis...". Die Wirkungen Tschirnhausens auf Wolff u.a. sind überdeutlich, vgl. beispielsweise Wollgast wie Anm. 5, 14 oder auch Winter, E. (Hrsg.) "E.W. von Tschirnhaus und die Frühaufklärung in Mittel- und Osteuropa" Berlin 1960
(23) wie Anm. 3, S. 40
(24) wie Anm. 17
(25) Ich sehe hier ab von den Einzelresultaten tschirnhausischer mathematischer Forschung, das bedarf einer eigenen Untersuchung.
(26) wie Anm. 3, S. 110 - 117
(27) wie Anm. 3, S. 117 - 130
Bauke, Dieter "Ovale und Ellipsen" Deutsche Mathematiker-Vereinigung Vortragsauszüge, Jahrestagung Berlin 1992, S. 187
Bauke, Dieter "Anmerkungen zum Artikel ´Erweiterung der Ellipse auf drei Brennpunkte´" WURZEL 6/1995, S. 135 - 137
(28) vgl. Anm. 15, dazu kommen für die Mathematik weitere Stellen, so u.a. wie Anm. 3, S. 185, 247f, 249
(29) wie Anm. 9, S. 16 - 45
(30) wie Anm. 9, S. 45
(31) wie Anm. 3, S. 132 - 138
(32) Verschiedene handschriftliche Entwürfe zu einem Algebra-Lehrbuch in der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften zu Görlitz, Signatur "Schrank IV, 239"
(33) "Leibniz erkannte sofort die Bedeutung als ´teutsche Einleitung in die Mathematik´" stellt Winter im Vorwort zur Reprintausgabe der "Gründlichen Anleitung ..." (1967) (wie Anm. 9), S. XII fest. Aber auch Wolff, Pescheck u.a. orientieren ihre mathematischen bzw. philosophischen Aktivitäten an Tschirnhaus.
(34) Wie Anm. 19 Siegmund-Schulze
 


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